Marburger Hirn-Schrumpfung

Im Mai 2005 wurden im Anaesthesisten zum Thema „Pharmakologische Besonderheiten und Probleme des älteren Patienten“ [Kratz et al. 2005] Merkwürdigkeiten veröffentlicht, die den Leser höheren Alters erschrecken mussten:
In Tab. 1 werden über physiologische Veränderungen des Über-75-Jährigen im Vergleich zum 30-Jährigen berichtet, unter anderem soll im Vergleich zum 30-Jährigen (100 %) das Gehirngewicht nur noch 56 %, die Regulationsgeschwindigkeit des Blut-pH nur noch 17 %, der Nieren-Plasma-Fluss nur noch 50 % und die Vitalkapazität nur noch 56 % betragen. Insgesamt also schreckliche Nachrichten für die Alten.

Abgesehen davon, dass hier das erste Mal über die „Regulationsgeschwindigkeit des Blut-pH“ berichtet wird und die Lehrbücher der Physiologie für den 80-Jährigen eine Vitalkapazität von 75 % statt hier von 56 % konstatieren, war doch die gravierendste Einschränkung im Alter die Schrumpfung des Gehirns um 44 %, was einen Physiologen doch nervös und neugierig zugleich stimmten musste.

Eine ironische Nachfrage bei der Erst-Autorin in Marburg im Mai 2005 wurde daher wie folgt formuliert: Wenn das normale Gehirn-Gewicht eines 30-Jährigen 1360 g beträgt, nämlich der Mittelwert zwischen Frau (1300) und Mann (1430), und dieses beim Über-75-Jährigen auf 56 % abgefallen ist, also eine Abnahme um 600 g (44 %), womit wurde dann der Inhalt der unveränderten Schädelhöhle aufgefüllt, mit 600 ml (Gewicht = Volumen unterstellt) Blut oder Liquor?

Die prompte Antwort der Autorin aus dem Klinikum für Anästhesie und Intensivtherapie der Philipps-Universität Marburg erfolgte schon nach wenigen Tagen: „Vielen Dank für Ihr Interesse an unserem Artikel. Bezugnehmend auf Ihre Frage wodurch der Verlust der Hirnmasse im Alter ausgeglichen wird: Liquor.“
Angefügt wurden noch einige Literaturstellen, die sich ausführlich mit diesem Thema beschäftigen. Blatter DD, Bigler ED, Gale SD, et al: Quantitative volumetric analysis of brain MR normative database spanning five decades of life. Am J Neuroradiol 1995; 16: 241-251. Cowell PE, Turetsky BT, Gur RC, et al: Sex differences in aging of the human frontal and temporal lobe. J Neurosci 1994; 14: 4748-4755. Gur RC, Mozley PD, Resnick SM, et al: Gender differences in age effect on brain atrophy measured by magnetic resonance imaging. Proc Nat Acad Sci USA 1991; 88: 2845-2849. Salat DH, Kaye JA, Janowsky JS: Prefrontal gray and white matter volumes in healthy aging and Alzheimer disease. Arch Neurol 1999; 56:338-344. Sullivan EV, Marsh L, Mathalon DH, et al: Age-related decline in MRI volumes of temporal lobe gray matter but not hippocampus. Neurobiol Aging 1995; 16: 591-606. Scahill RI, Frost C, Jenkins R,. Whitwell J,. Rossor MN, Fox NC: A longitudinal study of brain volume changes in normal aging using serial registered magnetic resonance imaging. Arch Neurol 2003; 60: 989-994.

Der Direktor der Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie wurde wie folgt informiert: Von den fünf aufgeführten Arbeiten, keine davon war in der Arbeit im Anaesthesisten zitiert, wurden zwei Arbeiten mit folgendem Ergebnis gelesen:
1. In der Arbeit Scahill et al. (2003) wird an nur 39 Patienten zwischen 36 und 77 J. eine konstante mittlere Abnahme des Hirngewichts von 0,32 % p. a. gemessen, also für einen 80-Jährigen eine Abnahme von 16 % im Vergleich zum 30-Jährigen. Das Ventrikelvolumen nimmt im gleichen Zeitraum um 32,5 ml zu.
2. In der Arbeit Blatter et al. (1995) wird an 194 Patienten zwischen 16 und 65 J. für den 80-Jährigen eine Abnahme des Hirngewichts von 5,8 % beschrieben, diese Daten werden mit zwei Publikationen verglichen, die Autopsiematerial untersucht haben, die Übereinstimmung ist optimal. Die Zunahme des Gesamt-Volumens der Cerebrospinalflüssigkeit beträgt für den 80-Jährigen 105 ml.

Fazit: An einer großen Zahl von Patienten wurde belegt, dass das Hirngewicht eines 80-Jährigen um ca. 6 % gegenüber einem 30-Jährigen abgenommen hat, an einem kleinen Kollektiv beträgt diese Abnahme 16 %.

Es wird die Bitte vorgetragen, die Tabelle 1 dieser Arbeit von den Autoren in allen Punkten als Erratum im Anaesthesisten zu korrigieren. Der Direktor sagt zu, sich der Sache anzunehmen. Eine Nachfrage im August bleibt unbeantwortet, die Bitte an einen Herausgeber des Anaesthesisten im Oktober 2005, ein Erratum einzustellen, bleibt erfolglos, im Februar 2006 schließlich beurteilt dieser die Angelegenheit als hoffnungslosen Fall.

Damit nachfolgende Wissenschaftler diese Fehlmeldungen nicht zitieren, wird ein Jahr nach Veröffentlichung an dieser Stelle folgendes Erratum veröffentlicht: Die in Tab. 1 [Kratz et al. 2005] genannten Daten sind größtenteils falsch und daher nicht zitierbar.

Literatur

Kratz CD, Schleppers A, Iber T, Geldner G
Pharmakologische Besonderheiten und Probleme des älteren Patienten
Anaesthesist 2005; 54: 467 - 475