Mit Datum vom 11.01.2008 hat das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) eine Pressemitteilung zu "Mehr Sicherheit für Patienten mit schwerer Blutvergiftung" (Sepsis) veröffentlicht, die wegen des offensichtlich mangelnden Sachverstandes der Verantwortlichen korrigiert werden muss. Mangelnder Sachverstand muss auch dem vom BMBF erstgenannten Ansprechpartner vom Universitätsklinikum Jena attestiert werden, mit dem, nach Auskunft des BMBF, "die Pressemitteilung selbstverständlich abgestimmt war."
Besprochen wird eine Studie des "Kompetenznetzes Sepsis" zur Therapie von Patienten mit schwerer Sepsis und septischem Schock (so genannte VISEP-Studie), die im April 2003 begonnen und zwischen März und Juni 2005 (unklare Datenlage) vorzeitig beendet werden musste, weil die Gefährdung der Patientensicherheit nicht mehr zu verantworten war. Schon vor einem Jahr wurde das Studienprotokoll in einer deutschen Publikation deutlich kritisiert. Das BMBF wird darin wie folgt zitiert: "Das BMBF kann verständlicherweise zu diesen wissenschaftlichen Diskursen keine Stellung beziehen."
Angeblich "werden derzeit Infusionen mit kristalloiden (zum Beispiel Hydroxyäthylstärke HES) oder kolloidalen (zum Beispiel Ringer´s Laktat) Lösungen empfohlen".
Eine derartige Empfehlung existiert, außer beim BMBF und beim SepNet, nicht. Untersucht wurde eine kristalloide Infusionslösung Sterofundin, vollkommen anders zusammengesetzt als Ringer-Laktat-Lösung, im Vergleich mit einer kolloidalen Hydroxyethylstärke-Lösung (HES). Dass die Beteiligten kristalloide und kolloidale Lösungen verwechseln, ist ausreichender Beleg mangelnden Sachverstandes.
Bei den untersuchten Lösungen handelt es sich zudem um Präparate, die bereits 2003 durch bessere Präparate abgelöst worden waren. Die Auswahl der veralteten Präparate wurde sehr deutlich kritisiert (siehe Publikation).
"Die Studienergebnisse zeigen nun eindeutig, dass die derzeit verfügbaren HES-Produkte nicht verwendet werden sollten."
Die "derzeit verfügbaren HES-Produkte" von mehr als einem Hersteller in Deutschland unterscheiden sich in mehreren entscheidenden Punkten sehr von dem damals eingesetzten kolloidalen HES-Präparat, das heute als obsolet betrachtet wird. Die Aussage ist somit gegenstandslos.
Bei dem damaligen HES-Präparat (HES 200.000) handelt es sich darüber hinaus um eine 10 %-ige Lösung, die nur einmalig und unter bestimmten Vorsichtsmaßnahmen verabreicht werden darf. Diese Vorsichtsmaßnahmen wurden ignoriert.
"dass die derzeit verfügbaren HES-Produkte nicht verwendet werden sollten, weil sie ein akutes Nierenversagen ... verursachen."
Die von mehreren Herstellern veröffentlichten Fachinformationen zu Lösungen mit 10 % HES 200.000 enthalten je nach Hersteller seit 1998 bzw. 2001 bis heute den Hinweis "Nierenversagen (Serumkreatinin > 2 mg/dl bzw. > 177 µmol/l)". Das gewählte Ausschlusskriterium für Patienten "Serum-Kreatininwert > 3,6 mg/dl bzw. 320 µmol/l" wurde damit gegenüber den Herstellerangaben um 80 % erhöht, also fast verdoppelt. Ein nicht zu rechtfertigendes Vorgehen mit erwartungsgemäß fatalen Folgen für die betroffenen Patienten. Auch hier wurden die Fachinformationen der Hersteller ignoriert.
"dass die derzeit verfügbaren HES-Produkte nicht verwendet werden sollten, weil sie ein akutes Nierenversagen und in höheren Dosierungen eine erhöhte Sterblichkeit verursachen."
Das damalige HES-Präparat wurde allein in den ersten 24 Stunden in einer Dosierung verabreicht, die im Mittel (Median) um 60 % über der vom Hersteller angegebenen und damit vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) genehmigten Höchstdosis lag. Die maximale Überdosierung betrug sogar mehr als 700 % dieser Höchstdosis.
"dass die derzeit verfügbaren HES-Produkte nicht verwendet werden sollten, weil sie ein akutes Nierenversagen und in höheren Dosierungen eine erhöhte Sterblichkeit verursachen."
Zitat: "Die 90-Tage-Mortalität stieg in einer Subgruppe bei 99 Patienten von 30,9 auf 57,6 %, sofern sie an mindestens einem Tag mehr als 22 ml/kg KG /d der 10 %igen HES-Lösung (Hersteller: Tagesmaximaldosis 20 ml/kgKG) erhalten hatten (hochsignifikant, p<0,0001), also 26 therapiebedingte Todesfälle infolge Protokoll-Verletzung im Sinne einer HES-Überdosierung" (siehe Publikation). Eine nicht akzeptable Überdosierung, nämlich 60 % über der von Hersteller und BfArM angegebenen Höchstdosis, führt zu erhöhter Sterblichkeit.
"Die Arbeit des Kompetenznetzes Sepsis unterstreicht damit einmal mehr, wie wichtig es ist, gängige Behandlungsschemata systematisch zu überprüfen."
Das hier geprüfte Behandlungsschema ist alles andere als gängig: Die Auswahl ungeeigneter Infusionslösungen, Übergehen von Warnhinweisen in den Fachinformationen und die Dosisüberschreitungen sind nicht zu tolerieren.
"Die Studie … sorgt damit für eine wirksamere Behandlung und mehr Sicherheit für die Patienten."
Diese Aussage ist falsch: Die Studie liefert ein entgegengesetztes Ergebnis, nämlich welche Maßnahmen zu einer weniger wirksamen Behandlung und weniger Sicherheit für den Patienten führen: ungeeignete Infusionslösung, erhebliche Überdosierung eines Präparates und Ignoranz gegenüber Warnhinweisen.
Damit bleibt die bisherige Einschätzung bestehen: "Wegen dieser Mängel des Studienprotokolls der VISEP-Studie kann die Konsequenz nur lauten, dass die Ergebnisse dieser Studie nicht verwertbar sind" (Zitat Publikation).
"Dabei ist es erforderlich, qualitativ hochwertige klinische Studien in der Intensivmedizin durchzuführen, um langfristig die Sicherheit für alle Patienten zu verbessern."
Diese abgebrochene Studie als "hochwertig" zu bezeichnen, kann nur politisch motiviert sein: Das Studienziel "Senkung der Morbidität und Mortalität" wurde verfehlt und ins Gegenteil verkehrt, nämlich vermehrt akutes Nierenversagen und Erhöhung der 90-Tage-Mortalität. "26 therapiebedingte Todesfälle infolge Protokollverletzung im Sinne einer HES-Überdosierung" (Zitat Publikation) stehen im Gegensatz zu "Sicherheit für alle Patienten." Somit handelt sich nicht um eine "hochwertige klinische Studie", wie vom BMBF behauptet, es sei denn die "hochwertigen" Fördersummen des BMBF sollen gerechtfertigt werden.