Zur Blinddarmentzündung findet sich im Deutschen Ärzteblatt 2018 (Jg. 115 | Heft 31–32 | 6. August 2018) der Beitrag „Appendektomie ist kein Muss“ mit einer fragwürdigen Abbildung zur Palpation eines kindlichen Abdomens. Im ganzen Beitrag über drei Seiten werden die diagnostischen Möglichkeiten wie CT, Blutbild mit Leukozyten und CRP, Sonographie bis hin zur Laparoskopie besprochen, aber jeglicher Hinweis zur Palpation mit dieser Abbildung fehlt.
Selbst ein Laie würde den approbierten Ärzten folgenden Ratschlag geben:
"Suchst du den Blinddarm hier links oben, kann dich ein Richter nicht mehr loben."
Der „Nobelpreis für Medizin“ wird seit 1901 jährlich von der Nobelversammlung des Karolinska-Instituts in Stockholm – die schwedische medizinische Universität in der Nähe Stockholms – an denjenigen verliehen, der im vergangenen Jahr „die wichtigste Entdeckung in der Domäne der Physiologie oder Medizin gemacht hat“.
Alfred Nobels 1895 niedergelegter letzter Wille schließt ausdrücklich die Physiologie ein, die damals aber einen weitaus größeren Bereich als die medizinische Physiologie beinhaltete, Gebiete, die heute vor allem der Biologie, der Biochemie oder Biophysik zugerechnet würden [eingesehen bei Wikipedia, Feb. 2019].
Eine subjektive Zusammenstellung der Nobelpreise für Physiologie steht hier.
Die Deutsche Physiologische Gesellschaft (DPG) frönt in ihrem Übereifer nach weltweiter Anerkennung ihrer wissenschaftlichen Leistungen der „reinen“ Physiologie – ohne die Medizin. Dieser Wunsch nach weltweiter Anerkennung geht so weit, dass selbst die DPG-Kongresse innerhalb Deutschlands in Englisch organisiert und abgehalten werden, gilt das auch in Bayern?*
* 08.12.2014 CSU: „Wer dauerhaft hier leben will, soll dazu angehalten werden, im öffentlichen Raum und in der Familie deutsch zu sprechen“.
Das Ergebnis dieser Fehlentwicklung innerhalb der DPG kann so formuliert werden: Die klinische Physiologie ist – leicht übertrieben – schon lange klinisch tot.
Beispiel 1:
Auf der Jahrestagung 2003 der DPG beziehen sich 24 % aller Vorträge (Abstracts) auf die Neurophysiologie und nur 10 % auf die Herz-Kreislauf-Physiologie.
Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes aber sind 1999 immerhin fast 40 % der häufigsten Diagnosen (2,4 Mio) Erkrankungen des Herzens und der Gefäße, während die des Nervensystems mit weniger als 3 % gar nicht aufgeführt werden.
Beispiel 2:
Die Gewichtung der relevanten Themen in den Lehrbüchern der Physiologie ist willkürlich: Die Themen Herz, Kreislauf und Atmung erhalten zusammen nur knapp den gleichen Anteil am Gesamtumfang wie das Thema Neurophysiologie.
Laut Statistischem Bundesamt sind 1999 nur 1,8 % aller berufstätigen Ärzte als Neurologen tätig.
Mehr zu dieser Fehlentwicklung steht hier.
Regelmäßige Anfragen bei der DPG seit ca. 15 Jahren, wie viele DPG-Mitglieder (noch) Mediziner oder sogar approbierte Ärzte sind, kann von dort bis heute nicht beantwortet werden.
Was ist denn das für eine Mitglieder-Datei?
Auf der Homepage der DPG finden sich nur Ausführungen zum Fachphysiologen (für Naturwissenschaftler) nicht aber zum Facharzt für Physiologie (also Ärzte).
Da die Facharztprüfungen von den Ärztekammern durchgeführt werden, liefert das Deutsche Ärzteblatt* folgende Zahlen:
* Chefredakteur und stellvertretender Chefredakteur des Deutschen Ärzteblattes sind keine Mediziner, warum auch, in der Redaktion „Medwiss“ sehr wohl eine approbierte Ärztin und ein approbierter Arzt.
Die Gesamtzahl der Anerkennung der Facharztbezeichnung "Physiologie" betrug: 2012 – 9; 2013 – 5; 2014 – 2; 2015 – 1; 2016 – 2; 2017 – 4.
Donnerwetter, von 2015 auf 2017 eine Vervierfachung; immerhin waren zum 31.12.2017 insgesamt 18 Ärztinnen und Ärzte mit der Facharztbezeichnung Physiologie berufstätig. Zum Vergleich: bei den Anatomen immerhin 29, aber bei der Biochemikern nur 10.
Keine Ärzte mehr in der DPG?
Wer bildet die zukünftigen Ärztinnen und Ärzte aus, wer macht die akademische Lehre?
In der sogenannten Vorklinik erfolgt die Ausbildung der Studierenden der Medizin u. a. in den Fächern Anatomie, Physiologie und Biochemie (physiol. Chemie) mit dem Ziel: „Auch im vorklinischen Studienabschnitt soll und wird die Exposition gegenüber klinischen Fragestellungen … früher beginnen“ (2013), so der Wissenschaftliche Vorstand der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg – Universität Mainz.
Aber geht das auch ohne Mediziner?
Bleiben wir am gleichen Ort und fragen nach bei der Universitätsmedizin Mainz (UM):
Weder die „Unternehmenskommunikation der Universitätsmedizin“, noch der Wissenschaftliche Vorstand, der Prodekan Lehre, das Studienbüro Vorklinik, die Fachschaft Medizin können – oder wollen – eine Auskunft darüber geben, wie viel Prozent der in der Vorklinik tätigen Hochschullehrer aktuell (2018) Mediziner sind, oder sogar die ärztliche Approbation besitzen.
Eine gut begründete Annahme hingegen lautet (ohne Gewähr): Funktionelle und klinischen Anatomie / Makroskopische Anatomie einige Ärzte oder approbierte Ärzte (s.u.), Physiologie / Pathophysiologie praktisch keine, Physiologische Chemie / Pathobiochemie keine.
Und das interessiert auch nicht die Studierenden-Vertreter der Fachschaft Medizin?
Die Frage, ob wir eine genügende Zahl von Ärzten für die vorklinische Lehre haben, ist doch entscheidend für den Masterplan Medizinstudium 2020!
Dazu folgende Zitate:
Empfehlung der DPG von 2015 an den damaligen Gesundheitsminister:
„Die vorklinische Ausbildung vermittelt Grundlagenkompetenz und ärztliche Basiskompetenzen für die Ausbildung mit unmittelbarem Patientenbezug.“
„Integration von klinischer Untersuchungstechnik in das Praktikum der Physiologie“
„Verzahnung von Physiologie und Klinik durch systemische Lehre der Pathophysiologie“
Aus der Einführungsveranstaltung der UM für Studienanfänger/-innen der Human-und Zahnmedizin vom 09.10.2018:
„Die Universitätsmedizin … realisiert eine enge Verzahnung von Krankenversorgung, Forschung und Lehre unter einem Dach.“
Deutsches Ärzteblatt Februar 2019:
Eine Expertenkommission des Wissenschaftsrates hat im Dezember 2018 Empfehlungen zur Umsetzung des Masterplans Medizinstudium 2020 … veröffentlicht.
„Dazu sollen theoretische Grundlagen im Medizinstudium von Beginn an konsequent mit klinisch-praktischen Inhalten verknüpft werden.“
Und das Ganze soll ohne Ärzte möglich werden?
Mit zwei – zugegeben extremen – Beispielen soll die Situation exemplarisch beleuchtet werden:
Donnerwetter, Feinmechaniker statt Professor, Professor ohne Lehre?
Das hat Zukunft!
Geht doch!
Ein Juniorprofessor erhält nach der W1-Besoldung bei Einstellung ein Bruttogehalt von ca. 4.000 € (Saarland) bis ca. 4.500 € (Baden-Württemberg), eine Qualifikation, die im Schnitt erst mit 41 Jahren erreicht wird.
Ein Assistenzarzt erhält als Einstiegsgehalt nach dem Tarifvertrag kommunaler Krankenhäuser im Jahr 2019 ca. 4.400 €, das Alter beträgt im Schnitt 25 Jahre.
Wen wundert es noch, dass die jungen Ärzte nicht in die Fächer Anatomie, Physiologie oder Biochemie gehen?
Die Leser dieser Glosse sind herzlich eingeladen, einen Kommentar an dieser Stelle – nach Absprache – veröffentlichen zu lassen.