Es soll folgende Hypothese geprüft werden: Haben das diabetische, urämische und alkoholische Koma ihre gemeinsame Ursache in einem Hirnödem, das durch eine Hyper-Osmolalität des Plasmas zustande kommt?
Diese Hypothese klingt primär abwegig, weil ein osmotisches Hirnödem üblicherweise auf eine Hypo-Osmolalität zurückgeführt wird, also eine Eindiffusion von Wasser infolge gesenkter Plasma-Osmolalität.
Im Gegensatz zu den klassischen Osmolen wie Natrium bzw. Chlorid (NaCl) oder Mannit sollen hier unter Pseudo-Osmolen osmotisch aktive Substanzen verstanden werden, die durch übliche Zellmembranen eingeschränkt diffundieren können. Dazu sind zu zählen: Glukose in den insulinunabhängigen Organen (Gehirn, Erythrozyten, Leberzellen), Harnstoff (Urea), Ethanol (Ethylalkohol) und Laktat.
An frischen Blutproben wurde unter Konstanthaltung des Hämatokrits (Hct) ein Teil des Plasmas durch konzentrierte, hyperosmolale Lösungen (NaCl, Mannit, Urea, Glukose, Ethanol) ersetzt und der Hämatokrit vor und nach dem Austausch nach mehrmaliger Zentifugation (Mikro-Hämatokrit-Zentrifuge) gemessen. Die Änderung des Hct (45-50 %) wurde dann in Prozent des Ausgangswertes ausgedrückt. Um einen möglichen intra-erythrozytären Metabolismus von Glukose auszuschließen, der einen Einfluss auf das Messergebnis haben könnte, wurde die nicht metabolisierbare Deoxy-Glukose ebenfalls untersucht.
Als Beispiel für die Einstellung einer "Soll"-Osmolalität wird genannt: 1.300 µl Blut werden 234 µl Plasma entnommen und durch 234 µl 1 osmolare (= 0,5 molare) NaCl-Lösung ersetzt (Hamilton-Spritze). Die Berechnung der "Soll"-Osmolalität, ausgehend vom Normalwert von 290 mosmol/kg H2O, ergibt dann 418 mosmol/kg H2O (1.066 x 290 + 234 x 1.000 = 1.300 x 418).
Hierbei wurden folgende Fehler vernachlässigt: Bei den Zusätzen wurden Osmolarität (mosmol/l) und Osmolalität (mosmol/kg H2O) gleichgesetzt und die osmotischen Koeffizienten vernachlässigt (z. B. NaCl 0,926 und Glukose 1,013).
Bei Ethanol (MW 46,07) wurde die 1 molare Lösung hergestellt aus 4,8 ml 96 %igem Ethanol aufgefüllt mit Aqua dest. auf 100 ml Lösung; bei einer Dichte von 0,790 g/ml entspricht 1 ‰ Blutalkohol-Konzentration einer Osmolalitätszunahme von 17,1 mosmol/l.
Die Ergebnisse sind in der folgenden Abbildung wiedergegeben: Dargestellt ist die prozentuale Hct-Änderung als Funktion der geänderten "Soll"-Osmolalität im Plasma. Die klassischen Osmole (geschlossene Symbole) NaCl (Dreieck) und Mannit (Raute) werden mit den Pseudo-Osmolen (offene Symbole) Urea (Viereck), Glukose (Dreieck), Ethanol (Kreis) und Deoxy-Glukose (Raute) verglichen.
Vorhersage einer Hct-Änderung nach Zusatz von NaCl:
Für das klassische Osmol-Paar NaCl, also Ausgleich der Plasma-Hyperosmolalität allein durch Wasserdiffusion aus den Erythrozyten in das Plasma, soll eine grobe Abschätzung der zu erwartenden Hct-Abnahme für einen Hct von 50 % am Beispiel einer Hyperosmolalität von 340 mosmol/kg H2O außen berechnet werden. Gemessen wurde dort (s. Abbildung) eine Abnahme um ca. 4,5 % auf 95,5 %, unter Berücksichtigung des (vernachlässigten) osmotischen Koeffizienten (92,6 %) wären dies ca. 5 % Abnahme auf 95 % (bei 336 statt 340 mosmol/kg H2O außen).
Ausgangswerte: Erys (0,5 x 290 mosmol/l) + Plasma (0,5 x 340 mosmol/l) = 1,0 x X. Unter Berücksichtigung des Wassergehaltes (Erys 71 %, Plasma 94 %) wären das dann: (0,355 x 290 mosmol/kg H2O) + (0,47 x 340 mosmol/kg H2O) = 0,825 x 318,5.
Iterative Lösung: Die Erys müssen solange Wasser abgeben (- 0,0315), das vom Plasma aufgenommen wird (+ 0,0315), bis innen und außen die gleichen Osmolalitäten herrschen (318,5), und zwar im zur Verfügung stehenden Wasserraum. Die Menge der Osmole muss dabei innen (102,95) und außen (159,8) erhalten bleiben.
Ergebnis: (0,3235 x 318,5 mosmol/kg H2O) + (0,5015 x 318,5 mosmol/kg H2O) = 0,825 x 318,5 mosmol/kg H2O. Damit haben die Erys um 0,0315 Volumeneinheiten abgenommen, das macht 6,3 % des Ausgangsvolumens (0,5) aus.
Somit ist eine relativ gute Übereinstimmung mit dem Messergebnis von ca. 5 % gegeben.
Nicht dargestellt sind die Ergebnisse von Osmolalitäts-Messungen (Gefrierpunkts-Depression) an aufgestockten Plasmaproben sowie denen die den Erythrozyten-Präparaten nach Messung der Hct-Änderung entnommen wurden.
Es zeigt sich, dass die gemessenen Osmolalitäten im Bereich von 290 bis 375 mosmol/kg H2O sehr gut mit den theoretischen "Soll"-Werten der aufgestockten Proben übereinstimmen, wobei keine systematischen Unterschiede zwischen NaCl und Mannit einerseits und Urea, Glukose, Deoxy-Glukose und Ethanol andererseits zu beobachten waren. Bei den Plasmaproben hingegen, die zuvor im Kontakt mit den Erythrozyten gestanden hatten, wichen die Messwerte systematisch nach unten linear ab. Bei 375 mosmol/kg H2O zum Beispiel wurden im Mittel nur noch 350 mosmol/kg H2O gemessen. Auch hier wurden keine systematischen Unterschiede zwischen den klassischen Osmolen (NaCl, Mannit) und den Pseudo-Osmolen (Urea, Glukose, Deoxy-Glukose, Ethanol) gefunden.
Dies ist insofern bemerkenswert, als zufällig (?) die Verdünnung im äußeren Plasma durch Wasser-Diffusion von den Erythrozyten in das Plasma bei den klassischen Osmolen identisch ist mit der Diffusion der Pseudo-Osmole aus dem Plasma in die Erythrozyten. In beiden Fällen beträgt die Osmolalitäts-Abnahme außen ca. 7 %, also ist die Wasser-Diffusion (klassische Osmole) in das hyperosmolale Plasma hinein in etwa vergleichbar mit der Diffusion der Pseudo-Osmole unter Wassermitnahme (solvent drag) aus dem Plasma hinaus. Dies ist auch aus der Abbildung mit +7 % Hct-Zunahme (Pseudo-Osmole) und -7 % Hct-Abnahme (klassische Osmole) bei 375 mosmol/kg H2O zu entnehmen.
Es ist offensichtlich, dass die Pseudo-Osmole zu einer Volumenzunahme der Erythrozyten führen, während die klassischen Osmole erwartungsgemäß eine Volumenabnahme erzeugen.
Mit einem historischen Versuch kann gezeigt werden, dass Erythrozyten in einer isotonen Harnstoff-Lösung (MW 60) von 1,8 % sofort hämolysieren, weil der Einstrom von Harnstoff unter Mitnahme von Wasser so schnell erfolgt, dass der osmotische Ausgleich überfordert ist.
Diesen Effekt macht sich zum Beispiel die kosmetische Industrie zunutze, indem sie Lotionen für die Haut anbietet, die Urea (Harnstoff) oder Laktat in hoher Konzentration enthalten (z. B. Eucerin), "mit intensiv feuchtigkeitsbindendem Urea und Lactat".
Auch wenn Erythrozyten keine typischen Zellen sind, kann doch aus ihrem Verhalten auf das Gehirn geschlossen werden, insbesondere die Glukose betreffend, weil beide Zelltypen Glukose insulinunabhängig aufnehmen können.
Daraus kann folgende Hypothese abgeleitet werden:
Bereits bei einer Blut-Ethanol-Konzentration von 1 ‰ muss mit einer Zunahme des Gehirn-Volumens um ca. 3 % gerechnet werden, ebenso bei der für ein hyper-glykämisches Koma typischen Glukose-Konzentration von 30 mmol/l; bei der beim urämischen Koma typischen Urea-Konzentration von 40 mmol/l beträgt die Zunahme sogar ca. 5 %.
Bei Zuordnung dieser auf den ersten Blick kleinen Zunahme von "nur" 3-5 % ist folgendes zu beachten (wie bereits 2005 zum Thema intrakranieller Druck und Osmolalität veröffentlicht). Der in seiner Form nicht veränderbare Schädel beinhaltet drei inkompressible Flüssigkeitsräume, von denen nur zwei, nämlich Blut und Liquor, partiell nach außen verschoben werden können: 1350 ml (g) Gehirn, 125 ml Blut, 145 ml Liquor. Jede Volumen-Änderung eines der drei Kompartimente muss mit einer identischen Volumen-Änderung eines anderen Raumes beantwortet werden.
Wenn jetzt eine Volumenzunahme von "nur" 3 % diskutiert wird, immerhin ca. 40 ml, dann steht hier eine ICP-Zunahme von 15 mmHg zur Diskussion. Dieser Wert kann (mit großer Streuung) aus 6 Tierversuchsreihen mit hypotonen Infusions-Lösungen abgeleitet werden: Im Mittel beträgt der ICP-Anstieg dort nach Senkung der Plasma-Osmolalität 1,5 mmHg pro 1 mosmol/kg H2O, also bei 10 mosmol/kg H2O (= 3,5 %) sind dies 15 mmHg ICP-Anstieg. Somit ist offensichtlich, dass es sich hierbei um ein klinisch relevantes Problem handeln kann.
Anhand von Versuchen an Erythrozyten mit den klassischen Osmolen NaCl und Mannit, im Vergleich zu so genannten Pseudo-Osmolen Glukose, Urea und Ethanol, kann demonstriert werden, dass Pseudo-Osmole eine Zunahme des Erythrozyten-Volumens, damit vermutlich auch ein Hirnödem und schließlich spekulativ ein diabetisches, urämisches und alkoholisches Koma verursachen können. Diese Art von Hyperosmolalität des Plasmas gilt es bei hyperglykämischen, urämischen und alkoholisierten Patienten genauer zu untersuchen.