Die richtige Deklarierung von Infusionslösungen zur Osmolalität (mosmol/kg H2O) mit ihren verschiedenen Aspekten wird hier dargestellt:
Das osmotische Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Kompartimenten des Organismus ist dann gegeben, wenn die Anzahl der osmotisch wirksamen Teilchen (Osmole) im zur Verfügung stehenden Wasserraum ausgeglichen ist. Beispielsweise steht die frei permeable Glukose dann zwischen Erythrocyt (Wassergehalt 71 %) und Plasma (Wassergehalt 94 %) im Gleichgewicht, wenn die Konzentrationen im zur Verfügung stehenden Wasserraum (l ≈ g H2O) gleich sind. Daher ist der Bezug auf ein Kilogramm Wasser, also Osmolalität (mosmol/kg H2O) physiologisch zwingend, der Bezug auf ein Liter Erythrocyt oder Plasma (mosmol/l) würde sehr unterschiedliche Konzentrationen vortäuschen.
Eine Plasma-Glukose-Konzentration von 5 mmol/l = 5 mosmol/l = 5,3 mosmol/kg H2O (kleineres Volumen, Konzentration nimmt zu) stehen im Gleichgewicht mit den Erythrocyten mit ebenfalls 5,3 mosmol/kg H2O = 3,8 mosmol/l (größeres Volumen, Konzentration nimmt ab). Das Gleichgewicht ist gegeben bei 5 mmol/l Plasma und 3,8 mmol/l Erythrocyten?
Diese Umrechnung wird z.B. dann relevant, wenn man die Glukose-Konzentration, ungewöhnlich gemessen im Vollblut, mit dem Hämatokrit auf den üblichen Plasma-Wert umrechnen muss. Gleiches gilt für die Laktat-Konzentration.
Tatsächlich wurde durch Messung experimentell belegt, dass die Osmolalität aller Körperflüssigkeiten einschließlich Erythrocyten in keinem Falle eine Abweichung von mehr als 1 mosmol/kg H2O vom Plasma-Normalwert von 288 mosmol/kg H2O aufweist.
Will man diese Aussagen überprüfen, bieten sich die Erythrocyten als physiologische Osmometer an: Die sogenannte physiologische 0,9 %ige NaCl-Lösung ist mit ihrer Osmolalität von 286 mosmol/kg H2O (Osmolarität 308 mosmol/l) gemessen am Plasmawert von 288 mosmol/kg H2O minimal hypoton. Bringt man Erytrocyten in diese Lösung mit ihrer minimalen Osmolalitätsdifferenz ein, kann man diese an der Zunahme des MCV ((mittleres korpuskuläres Volumen) in Relation zum Ausgangswert (Hct) ablesen. Das Ergebnis ergibt einen Wert von 101 ± 0,9 % (n = 25). Offensichtlich reagieren die Erythrocyten auf eine minimale äußere Osmolalitäts-Senkung mit einer minimalen, gerade noch messbaren Volumenzunahme. Dies ist auch der Beweis für die Richtigkeit des Plasma-Normalwertes.
Leider muss manchmal zwischen der in vitro gemessenen Osmolalität einer Infusionslösung (Labor) und ihrer Wirkung in vivo (im Organismus) ein Unterschied gemacht werden, was an zwei Beispielen erläutert werden soll.
Zufällig ist – nur im Falle von Plasma – die Osmolarität (mosmol/l) praktisch identisch mit der Osmolalität (mosmol/kg H2O), egal ob gemessen oder berechnet, wie die folgende Tabelle zeigt. Dieser Zufall hat in der Literatur zu zahlreichen Irrtümern geführt.
Wenn die Osmolarität (mosmol/l) von Plasma zufällig mit der Osmolalität (mosmol/kg H2O) praktisch übereinstimmt, dann liegt dies daran, dass der Wassergehalt (0,94) den osmotischen Koeffizienten von NaCl (0,926) gerade fast ausgleicht. Dies gilt aber – nicht für Infusionslösungen – mit einem Wassergehalt von 99,7 %. Hier erfolgt die Umrechnung mit den Faktoren 0,997 und 0,926.
Chronologie der Publikationen zur Forderung nach Isotonie (Anhang I)
Die Forderung nach Isotonie von Infusionslösungen lautet seit 2005: Eine Lösung ist dann isoton, wenn ihre kryoskopisch (Gefrierpunktserniedrigung, GPE) gemessene (reale) Osmolalität im Vergleich zu allen Körperflüssigkeiten des Menschen einschließlich Plasma mit 288 ± 5 mosmol/kg H2O in einem Bereich von 280 - 300 mosmol/kg H2O liegt.
Dieser geforderte Bereich von 20 mosmol/kg H2O, also ± 10 mosmol/kg H2O bzw. ± 3,5 % wurde 2005 „großzügig“ gewählt, großzügig im Vergleich zu einer erstaunlich geringen Streuung des Normalwertes von nur ± 1,7 %, was belegt, dass dieser Wert vom Organismus erstaunlich streng reguliert wird.
Deklariert wird die Isotonie mit der berechneten realen Osmolalität (mosmol/kg H2O). Diese Definition wurde 2008 insofern erweitert, als die berechnete in vivo Osmolalität eingeführt wurde, um die Wirkung metabolisierbarer Substanzen zu berücksichtigen, wie z.B. Glukose, die den Extrazellularraum schnell verlässt und im Intrazellularraum verstoffwechselt wird.
Eine Infusionslösung sollte – allein – mit der in vivo Osmolalität (mosmol/kg H2O) deklariert werden.
Diese Forderung ist bereits seit 15 Jahren mehrfach publiziert worden (s. Anhang I).
Beispiele problematischer Deklarierung durch die Hersteller (Anhang II)
Als Beispiele für das Deklarierungs-Chaos bei pharmazeutischen Unternehmen zur Osmolalität (mosmol/kg H2O) werden hier Fachinformationen von Infusionslösungen (mit dem Stand der Information) wörtlich zitiert, die aus dem Internet, www.Fachinformationen.de, Rote Liste, Gelbe Liste oder medikamio (Österreich) stammen.
Kommentiert werden die Infusionslösungen der Pharmazeutischen Unternehmen Baxter Deutschland GmbH, B. Braun Melsungen AG, Berlin-Chemie AG, Deltamedica GmbH, Fresenius Kabi Deutschland GmbH, Serag Wiessner GmbH & Co. KG, Serumwerk Bernburg.
Ein wesentlicher Grund für das hier dargestellte Chaos dürfte die bereits erwähnte Tatsache sein, dass viele Firmen dem Irrtum unterliegen, man könne den für Plasma geltenden Zufall, also Osmolarität (mosmol/l) gleich Osmolalität (mosmol/kg H2O), auf Infusionslösungen übertragen.
Wenn beim Plasma die Osmolarität (mosmol/l) zufällig mit der Osmolalität (mosmol/kg H2O) praktisch übereinstimmt, dann liegt dies daran, dass der Wassergehalt (0,94) den osmotischen Koeffizienten von NaCl (0,926) gerade fast ausgleicht. Dies gilt aber – nicht für Infusionslösungen – mit einem Wassergehalt von 99,7 %. Hier erfolgt die Umrechnung mit den Faktoren 0,997 und 0,926.
Falsche Angaben in Publikationen wissenschaftlicher Zeitschriften (Anhang III)
Beispiele in wissenschaftlichen Zeitschriften belegen eindrucksvoll, dass die Herausgeber und Gutachter bei der Beschreibung der Osmolalität (mosmol/kg H2O) bzw. Osmolarität (mosmol/l) offensichtlich überfordert sind. Dass dies auch für die zugehörigen Verlage zutrifft, wird in einem Offenen Brief aus 2020 an einen Verlag, stellvertretend für andere Verlage, beschrieben.
Der Rote Hand Brief des BfArM von 2018 – ohne Konsequenzen
Nach einem „Medizinpolitischen Appell“ im Jahre 2009 an das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Physioklin (s. Anhang I) – ohne jegliche Resonanz – informiert das BfArM die Ärzteschaft am 4. Juni 2018 in einem Rote Hand Brief über das Risiko einer schweren Hyponatriämie bei der Anwendung einiger Arzneimittel und warnt vor der Entwicklung einer akuten hyponatriämischen Enzephalopathie, die zu irreversiblen Hirnschädigungen und zum Tod führen kann.
In Physioklin publizierter Kommentar dazu:
Die Formulierung sog. „physiologisch hypotone Lösungen“ offenbart die Fehlinterpretation des Problems durch die PRAC (Pharmacovigilance Risk Assessment Committee) bei der EMA: Es geht nicht um hyponatriämische, sondern um hypotone bzw. hypoosmolale Lösungen, deren in vivo Hypo-Osmolalität (< 288 mosmol/kg H2O) je nach Infusionsvolumen und Infusionsrate eine Enzephalopathie mit irreversiblen Hirnschädigungen und zum Tod führen können.
Der im Jahre 2018 in Physioklin veröffentlichte Offene Brief an die Leitung des BfArM zum Rote Hand Brief des BfArM blieb – wieder ohne jegliche Resonanz.
Obwohl im Rote Hand Brief des BfArM von 2018 unter Berufung auf die PRAC impliziert wurde, Änderungen der Fachinformationen der betroffenen Infusionslösungen vorzunehmen, vor allem in den Kapiteln
4.2 Dosierung und Art der Anwendung,
4.3 Gegenanzeigen und
4.4 Besondere Warnhinweise und Vorsichtsmaßnahmen,
wurden derartige Änderungen nicht vorgenommen.
Es mutet fast zynisch an, wenn Hersteller bei einzelnen Lösungen (s. Anhang II) einen Hinweis auf den Rote Hand Brief von 2018 zum Beispiel wie folgt einfügen:
Was hätte man in die Fachinformationen zum Beispiel aufnehmen können?
Immer dann, wenn die Gefahr einer Hirndruck-Steigerung besteht, sollten grundsätzlich keine hypotonen Infusions-Lösungen eingesetzt werden. Dies gilt insbesondere für
Nachdem ab 1992 über zahlreiche Todesfälle infolge hyponatriämischer Encephalopathie berichtet wurde [AI Arieff et al.: Hyponatremia and death or permanent brain damage in healthy children. BMJ 1992; 304: 1218-1222], deren Zahl allein für die USA auf 15.000 pro Jahr geschätzt wurde [AI Arieff: Postoperative hyponatraemic encephalopathy following elective surgery in children. Pediatric Anesthesia 1998; 8: 1-4], konzentrierte sich das Interesse schnell auf das korrespondierende perioperative Infusionsregime.
Heute sind isotone Lösungen state of the art [R Sümpelmann et al.: Perioperative Infusionstherapie bei Kindern. AINS 2020; 55: 324-333].
Es ist nicht weiter verwunderlich, dass die entsprechenden Leitlinien der direkt betroffenen Fachgesellschaften keinerlei Warnhinweise zu hypotonen Infusionslösungen enthalten.
Betroffen wären zum Beispiel die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) zur „Idiopathischen intrakraniellen Hypertension“ und zu „Intrazerebrale Blutungen“ (abgelaufen) oder der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie (DGNC) zum „Schädel-Hirn-Trauma im Erwachsenenalter“.
Im Oktober 2020 wurden die DGN und die DGNC entsprechend informiert.
Fehler können jedem Autor unterlaufen: Daher wurde den angesprochenen sieben Herstellern von Infusionslösungen am Tag der Veröffentlichung in Physioklin (30.10.2020) angeboten, einen Kommentar an dieser Stelle – nach Absprache – veröffentlichen zu lassen.