Gibt es eine ernährungsbedingte Azidose?

Ein Beitrag vornehmlich für medizinische Laien

Zusammenfassung

Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass es eine ernährungsbedingte Übersäuerung (Azidose) oder latente Azidose geben könnte. Angebotene Hilfsmittel der Urin-Diagnostik sind unbrauchbar. Entsprechende Therapeutika sind wirkungslos und nützen nur dem Anbieter.

Im Folgenden können an den gekennzeichneten Stellen STATEMENTS aus einer Fernsehsendung des ZDF „Wenn der Körper übersäuert“ vom 27.08.2012 eingesehen werden.

Grundbegriffe

Unter Säuren (pH-Wert unter 7,0) und Basen (pH-Wert über 7,0) versteht man Flüssigkeiten, die einen pH-Wert (Säuregrad) unter- oder oberhalb des Neutralpunktes von Wasser (pH = 7,0) besitzen. Der pH-Wert des menschlichen Organismus, gemessen im Blutplasma, beträgt ziemlich genau 7,40 (leicht alkalisch), und wird über die Lunge, die Leber und die Nieren konstant gehalten. Da der Plasma-pH von zwei Seiten beeinflusst werden kann, nämlich von der Atmung einerseits und Leber und Nieren andererseits, muss man bei der Diagnostik von Störungen des pH-Wertes, also Störungen des Säure-Basen-Haushaltes des Menschen, weitere Größen bestimmen. Der Kohlendioxid-Partialdruck, ein Maß für die Konzentration des Gases Kohlendioxid (CO2) bzw. der Kohlensäure (H2CO3), beschreibt die Funktion oder Fehlfunktion der Atmung über die Lunge. Die Basenabweichung (engl. Base Excess, kurz BE) charakterisiert alle Störungen des Stoffwechsels (Metabolismus) oder der Ausscheidung (Exkretion). Diese Basenabweichung mit einem Normalwert von 0 (mmol pro Liter) ist erstaunlich konstant [mmol (milli mol) ist eine chemische Einheit].

Da die Basenabweichung im Blutplasma stellvertretend für den gesamten Raum um die Zellen herum gültig ist, so genannter Extrazellularraum, wird auf diese Weise dafür gesorgt, dass sich alle Zellen in einer genau regulierten Umgebung befinden. Bei einem Patienten mit einem Körpergewicht von 75 kg beträgt dieser Raum 15 Liter, das bedeutet, dass die Basenabweichung eine Störung in diesem großen Flüssigkeitsraum beschreibt. Das bedeutet aber auch, dass Störungen jedweder Ursache, diesen großen Raum verändern müssen.

Für eine Flüssigkeit ist aus diesen Fakten Folgendes abzuleiten: Will man den Säure-Gehalt derselben beschreiben, so genügt es nicht, den pH-Wert einer Flüssigkeit zu messen, weil dieser vom Kohlendioxid-Partialdruck einerseits und vom Säuregehalt plus Säuregrad andererseits abhängen muss. Allein durch Schütteln einer Flüssigkeit an der Luft kann man zum Beispiel das Kohledioxid (CO2) entfernen: Schütteln von „Kohlensäure“ haltigem Wasser oder Sekt lässt den pH-Wert deutlich in Richtung 7,0 steigen.

Will man in der Medizin den Säuregehalt plus Säuregrad einer Flüssigkeit beschreiben, erfolgt dies über die so genannte Titrations-Azidität: Man fügt der Flüssigkeit solange abgemessene Base zu, bis man einen pH von 7,40 erreicht hat, und gibt diese Menge in mmol pro Liter an.

Leistungen von Leber und Niere

Leber

Im Stoffwechsel des Menschen wird in den unterschiedlichsten Organen auch in körperlicher Ruhe Milchsäure gebildet, deren Salz als Laktat bezeichnet wird (aus der Sportmedizin bekannt). Die Menge beträgt ca. 50 mmol pro Stunde. Diese Milchsäure wird von der Leber perfekt abgebaut (verstoffwechselt), wobei daraus Zucker (Glukose) entsteht, oder die Milchsäure wird „verbrannt“, also zur Energiegewinnung verwendet.

Bei einem Totalausfall der Leber würde dies bedeuten, dass pro Stunde 50 mmol im Extrazellularraum auftauchen würden. Dies entspräche einer stündlich zunehmenden Basenabweichung von 3,3 mmol in den 15 Litern (50/15). Bereits nach 5 Stunden müsste diese Basenabweichung dringend vom Arzt therapiert werden, weil die Basenabweichung nun schon 16,5 mmol pro Liter (250/15) betragen würde, diagnostiziert im Blut des Patienten.

Die gesunde Leber ist in der Lage, etwa die 10fache Menge an Milchsäure zu beseitigen, für einen Sportler (s.u.) eine entscheidende Tatsache.

Niere

Die Nieren sind unter anderem dafür zuständig, überschüssige Säuren auszuscheiden, um die Basenabweichung des Patienten konstant zu halten. Unter Normalbedingungen scheiden sie pro Tag (nicht Stunde wie bei der Leber) ca. 50 mmol Säure aus. Um die ableitenden Harnwege nicht zu schädigen, müssen diese Säuremengen aber „verkleidet“ (gepuffert) ausgeschieden werden, eine Ausscheidung als Salzsäure (starke Säure) scheidet daher aus. Die Ausscheidung erfolgt etwa zur Hälfte in Form von Phosphat, d.h. die Säure wird als schwache Säure ausgeschieden, oder in Form von Ammonium, eine schwache Base.

Bei einem Totalausfall beider Nieren würde dies bedeuten, dass pro Tag 50 mmol im Extrazellularraum auftauchen würden. Dies entspräche einer täglich zunehmenden Basenabweichung von 3,3 mmol in den 15 Litern, nach etwa 2 – 3 Tagen müsste diese Basenabweichung dringend vom Arzt therapiert werden, weil ihr Wert nun schon 7 - 10  mmol pro Liter betragen würde, diagnostiziert im Blut des Patienten. Aus diesem Grunde müssen Patienten nach Verlust der Nierenfunktion etwa alle 2 – 3 Tage an die künstliche Niere (Dialyse) angeschlossen werden.

Die gesunden Nieren sind - wie die Leber - in der Lage, etwa die 10fache Menge an Säure auszuscheiden.

STATEMENT: Azidosen in der Medizin

Angeblich säuernde Nahrungsmittel

An dieser Stelle werden einige typische Nahrungsmittel besprochen, denen immer wieder eine säuernde Wirkung nachgesagt wird.

Coca Cola

Der sehr saure pH beträgt 2,4 und ist auf einen hohen Kohlendioxid-Partialdruck zurückzuführen, die Titrations-Azidität zeigt aber nur einen harmlosen Wert von 11 mmol/l (eigene Messwerte). Ein gutes Beispiel dafür, dass der pH keine Aussagekraft besitzt. Entweder entweicht das CO2 schon beim Stehen an der Luft (der Geschmack leidet erheblich) oder es wird nach dem Trinken als „Bäuerchen“ eliminiert. Eine Säuerung des Organismus findet somit nicht statt.

Grapefruitsaft

Grapefruitsaft mit einem sauren pH von 3,3 besitzt eine sehr hohe Titrations-Azidität von 120 mmol/l wegen seiner Zitronensäure-Konzentration von 40 mmol/l (eigene Messwerte). Damit würde der Genuss von 1 Liter Saft im Organismus theoretisch eine vorübergehende Basenabweichung von 8 mmol/l (120/15) verursachen, da die Leber aber die Zitronensäure rasch umsetzt, ist mit keiner Änderung des Säure-Basen-Haushalts zu rechnen.

Traubensaft

Mit einem pH von 3,1 zählt dieser Saft zu den besonders sauren Getränken, die Weinsäure-Konzentration beträgt 30 mmol/l, die Titrations-Azidität demnach 60 mmol/l. Der Genuss von 1 Liter dieses Saftes müsste also vorübergehend zu einer Basenabweichung von 4 mmol/l führen, führt aber weder im Blut noch im Urin zu einer nachweisbaren Säuerung, weil die Leber die Weinsäure rasch abbaut (Selbstversuch).

Eiweiß (Eier)

Der Genuss von Eiweiß wird immer wieder für eine Säuerung des Organismus verantwortlich gemacht, am Beispiel Hühnerei wird diese Fehleinschätzung demonstriert.

Gemäß dem Institut für Prävention und Ernährung (Ismaning)

http://www.saeure-basen-forum.de/pdf/IPEV-Nahrungsmitteltabelle.pdf

beträgt die renale Säurebelastung für das Eigelb 23,4 und für das Eiweiß 1,1 mmol pro 100 g, umgerechnet auf ein Hühnerei (65 % Eiweiß, 35 % Eigelb) wären das dann 8,9 mmol pro 100 g Ei. Da ein Hühnerei im Mittel ca. 65 g wiegt, müsste man auf einen Schlag ca. 15 Eier verzehren, also ca. 1.000 g, damit man im Extrazellularraum, gemessen im Blut, eine harmlose, aber deutlich messbare Basenabweichung von 6 mmol/l (89/15) erzeugen würde.

Diesem Irrtum aufgesessen wurde vor vielen Jahren ein entsprechender Selbstversuch (2 Probanden) unternommen: Nach je 15 Eiern zum Frühstück konnte weder im Blut noch im Urin eine Änderung des Säure-Basen-Haushalts nachgewiesen werden.

Des Rätsels Lösung: Die Autoren dieser immer wieder zitierten Tabellen haben offenbar übersehen, dass es bei den Eiweißbausteinen, den Aminosäuren, säuernde (Lysin, Arginin, Methionin, Cystein) und alkalisierende (Asparaginsäure, Glutaminsäure) gibt (Zander 1995). Berechnet man nämlich aus den Anteilen dieser Aminosäuren im Hühnerei die potentielle Wirkung auf den Säure-Basen-Haushalt, so kommt man zu dem erstaunlichen Ergebnis, dass die Summe der alkalisierenden mit 21,5 mmol pro 100 g Ei identisch ist mit der Summe der säuernden Aminosäuren mit 20,8 mmol pro 100 g Ei. Die entsprechende Zusammensetzung praktisch aller Lebensmittel findet sich bei Souci/Fachmann/Kraut (Die Zusammensetzung der Lebensmittel, 4. Aufl., medpharm, Stuttgart 1994).

Ratschläge aus der Para-Medizin

Von der Heilpraktikerin Sabine Wacker wird das Basenfasten (die Wacker Methode) empfohlen (Für Sie, 03/2009): "Säurebildner auf einen Blick sind danach alle Sorten von Fleisch, Milchprodukte, Ei, Zucker, Kohlensäure-haltige Getränke…"

STATEMENT: Übersäuerung durch Nahrungsmittel – Quatsch

Woher stammen die von der Niere täglich ausgeschiedenen Säuren?

Wenn die Nieren täglich ca. 50 mmol Säuren eliminieren, dann liegt die Vermutung nahe, dass diese zuvor mit der Nahrung zugeführt wurden. Aus diesem Grunde wurden vor Jahren 20 Frauen während des Heilfastens über maximal 14 Tage begleitet, indem der Urin täglich gesammelt und entsprechend untersucht wurde. Die Erwartung war, dass nicht nur die Ausscheidung der Elektrolyte Natrium, Kalium und Chlorid deutlich zurückgehen müsste, sondern auch die Säure-Ausscheidung. Insbesondere bestand die Erwartung darin, dass die Ausscheidung von Sulfat deutlich zurückgehen müsste, weil Sulfat ein Endprodukt des Stoffwechsels von Methionin und Cystein ist, zwei schwefelhaltige, bereits erwähnte ansäuernde Aminosäuren. Das Ergebnis war ernüchternd: Obwohl die Elektrolytausscheidung deutlich vermindert wurde, änderte sich die täglich ausgeschiedene Säuremenge praktisch nicht, die Sulfat-Ausscheidung ging allenfalls geringfügig zurück.

Fazit: Die Ernährung ist nicht für die täglich zu eliminierenden Säuren verantwortlich, diese stammen aus dem Stoffwechsel mit unklarer Herkunft, was insbesondere für die schwefelhaltigen Aminosäuren gilt.

Latente Azidose?

In der Para-Medizin, also den Bereichen am Rande der Medizin, kursiert immer wieder der Begriff der „latenten Azidose“, soll heißen, wir laufen täglich Gefahr, aufgrund falscher Ernährung eine Azidose zu entwickeln. Diese Annahme ist falsch und dient nur dazu, entsprechende Präparate am Markt zu platzieren (s.u.). Sie ist deshalb falsch, weil der menschliche Organismus mit der Leber und den Nieren – wie gezeigt - zwei Organe besitzt, die auch kleineste Abweichungen der Basenabweichung von der Norm sofort regulieren können. Allenfalls unter extremer Fehlernährung könnte es gelingen, eine solche Azidose zu erzeugen.

Als typisches Beispiel wird die Beschreibung der latenten Azidose der Firma Protina Pharm. GmbH (Ismaning, s.o. Institut für Prävention und Ernährung) zitiert: "Blut pH im Normbereich, aber leicht ins saure verschoben; Säure-Basen-Haushalt im Ungleichgewicht; keine akuten Symptome  „versteckte“ Übersäuerung."

Azidose-Diagnostik in Urin oder Blut?

Natürlich gibt es in der Medizin Azidosen, die entsprechend diagnostiziert und therapiert werden müssen. Jede Störung der Atmung führt zu einer (respiratorischen) Azidose, dies gilt ebenso für die Störungen der Leber- oder Nierenfunktion (hepatisch oder renal).
Die erforderliche Diagnostik erfolgt natürlich im Blut des Patienten: Gemessen wird der pH, der Kohlendioxid-Partialdruck zur Beurteilung der Atmung und die Basenabweichung zur Charakterisierung der Funktion von Leber und Nieren.

Es gibt aber auch Azidosen, die keiner Therapie bedürfen: Im Mittel kommen alle Menschen mit einer leichten Azidose auf die Welt, die Basenabweichung beträgt 4 - 6 mmol/l, ohne dass dabei Probleme entstehen.
Der 1.000-m-Läufer zeigt kurze Zeit nach dem Zieldurchlauf eine Basenabweichung von ca. 20 mmol/l, etwa 45 min später hat die Leber diesen Wert wieder normalisiert und die Niere hat dabei praktisch keine Milchsäure ausgeschieden.
Ein Epileptiker entwickelt im Anfall nach 1 - 2 min eine Basenabweichung von ca. 25 mmol/l, ca. 60 min später hat sich diese wieder normalisiert.

Die in der Para-Medizin praktizierte Diagnostik im Urin ist verständlicherweise vollkommen unzureichend: Der pH allein sagt überhaupt nichts aus über die Säure-Ausscheidung, wenn nicht zugleich die Konzentrationen an Ammonium und Phosphat erfasst werden, also die Substanzen, die die Säuren „verkleiden“ (puffern). Auch der Kohlendioxid-Partialdruck ist zu erfassen, das Beispiel von Coca Cola (s.o.) zeigt ja gerade, wie der pH-Wert von diesem Wert beeinflusst wird. Wollte der Patient eine harmlose Säure-Ausscheidung allein über den Urin-pH demonstrieren, müsste er nur den Urin an der Luft stehen lassen oder schütteln, um den pH-Wert in Richtung „gesund“ zu verändern. Nur die tägliche Urinmenge in Verbindung mit einer vollständigen Diagnostik könnte eine Aussage über die Säure-Ausscheidung liefern.

Ratschläge aus der Para-Medizin

Erneut die Heilpraktikerin Sabine Wacker (s.o.): "Einen guten Anhaltspunkt dafür, wie es um ihren Säure-Basen-Haushalt steht, liefern Urin-Teststreifen aus der Apotheke (50 Stück ca. 10 Euro)".

STATEMENT: Diagnostik im Urin oder im Blut?

Therapeutika der Übersäuerung im Angebot

Aus dem wirklich reichhaltigen Angebot werden einige typische erwähnt.

In groß angelegten Anzeigen wirbt Gerolsteiner mit den Fakten ihres Mineralwassers: "1.816 mg pro Liter Hydrogencarbonat. Dieses recht unbekannte, aber wichtige Mineral unterstützt die Säure-Basen-Balance und hilft auf diese Weise gegen eine Übersäuerung des Körpers," dazu dann der Verweis auf das Institut für Prävention und Ernährung (s.o.).
Mit einem Liter führt man dem Organismus damit 30 mmol Hydrogencarbonat zu, also den Betrag, den die Leber „routinemäßg“ in etwa einer halben Stunde freisetzt.
Den gleichen Betrag an Bicarbonat kann man zum Beispiel auch mit „Apollinaris classic“ zuführen (eigene Messungen), dann trinkt man aber auch sehr viel Natrium, immerhin den dreifachen Wert dessen, was die deutsche Trinkwasserverordnung zulässt (6,5 mmol/l).

Bei der Zufuhr von Bicarbonat (identisch mit Backpulver) über den Magen ist aber zu bedenken, dass die Magensäure das Bicarbonat automatisch in Kohlendioxid (CO2) und Wasser (H2O) umwandelt, das „Bäuerchen“ nach dem Trinken wirkt befreiend. Also gut gegen eine Übersäuerung des Magens, nicht des Körpers im Sinne von Gerolsteiner.

Die Firma Protina Pharm. GmbH (s.o.) bietet Präparate zur Therapie der latenten Azidose an, allerdings vorzugsweise Zitrat: Die höchste empfohlene Tages-Dosis (Basica vital) beträgt hier 65 mmol, gemessen an der täglichen "Routine-Leistung" der Leber (1.200 mmol) ein bescheidener Betrag von gerade mal 5 %.

Diese Schilderung könnte man fortsetzen über Dr. Jacob´s Basenpulver, 95 % Zitrat ("Citrate"), erhältlich in Apotheken, ganzseitige Anzeige (Frau im Leben 08/2009).

Auf weitere Stichworte wie Basentee, Basenpflaster, Basenbad oder Fußbäder mit entsäuernder Wirkung wird nicht eingegangen, ein großes Angebot findet sich im Interrnet.

STATEMENT: Therapeutika nützen nur dem Hersteller