Auszüge aus:
Ulrich Bahnsen
Das Leben lesen – Was das Blut über unsere Zukunft verrät
© Droemer Verlag 2017
Mit freundlicher Genehmigung des Verlags
Viele große Entdeckungen haben mit einem Zufall begonnen. Nur eine Etage entfernt von Wyss-Corays Labor an der Stanford University arbeitete Thomas Rando. (…) Rando ahnte nicht, dass er die Lösung des Problems seines Kollegen längst parat hatte. Er wollte damals erforschen, warum unsere Muskeln im Alter immer schwächer werden. Gab es vielleicht Stoffe im Blut alter Tiere, die das bewirken?
Um das herauszufinden, verband er alte und junge Mäuse chirurgisch, damit sie einen gemeinsamen Blutkreislauf bekamen. Das Ergebnis war frappierend: Die Muskulatur der alten Tiere regenerierte sich wieder, sie wurden kräftiger. Es war ein eindeutiger Befund. Im Blut junger Mäuse musste es also Stoffe geben, die frische Muskelfasern wachsen lassen. Als Tony Wyss-Coray davon (…) erfuhr, wurde ihm klar: Er hatte seine Methode gefunden. Er konnte damit eine Menge drängender Fragen in der Alzheimer-Forschung beantworten: Würde so ein Experiment auch das Hirn alter Tiere wieder fit machen? Das Gedächtnis stärken, sie wieder lernen lassen wie in ihrer Jugend? Oder sogar gegen das Nervensterben im Hirn von Alzheimer-Patienten helfen? Wyss-Coray und Rando bauten ein Forschungsteam auf und versuchten es. (…)
Wyss-Coray begann damit, seine Versuchstiere chirurgisch zu verbinden. Er machte buchstäblich aus zwei Tieren eines. Es ist ein ganz altes experimentelles Verfahren. Man nennt es Parabiose, gleichsam eine künstlich erzeugte Form von siamesischen Zwillingen. Nach der Operation sind die zwei Mäuse Seite an Seite aneinander fixiert, und ihre Gefäße wachsen durch die chirurgische Wunde ineinander. Ein paar Wochen lang können Forscher dann mit ihnen Experimente machen, sie beobachten und Messungen vornehmen. Interessant wird der Ausgang dieses wenig tierfreundlichen Experiments, wenn sich die beiden Mäuse in einer Eigenschaft unterscheiden. Wenn nämlich Stoffe im Blut dabei eine wichtige Rolle spielen, wird man eine Veränderung dieser Eigenschaft erleben, bei beiden Tieren. (…)
Wyss-Coray und seine Kollegen untersuchten nun Mäuse durch eine besondere Form des chirurgischen Verfahrens: Sie vereinigten ganz junge Tiere immer nur mit sehr betagten Artgenossen – die einen zwei Monate, die anderen zwei Jahre alt. Erst nach Wochen trennte man die ungleichen Paare wieder, um sie zu untersuchen. Was, wenn überhaupt etwas, würde man finden?
Den Forschern bot sich ein erstaunliches Bild: Das Experiment hatte in den alten Mäusen spektakuläre Effekte erzeugt. Geheimnisvolle Stoffe, die mit dem Blut der jungen Tiere in den Kreislauf der greisen Mäuse flossen, stärkten nicht nur deren Muskeln. Sie hatten die Leber und die Bauchspeicheldrüse erneuert. Die Knochen der alten Mäuse waren stabiler geworden, ihre Herzleistung hatte sich verbessert. Auch das Knochenmark schien wieder mehr Immunzellen zu produzieren. Besonders beeindruckend aber war die Wirkung des jungen Bluts im Gehirn. Vergreiste Mäuse lernen nur noch schlecht, auch ihr Gedächtnis wird schwach. Die Hirne von Wyss-Corays Versuchstieren aber zeigten Leistungen, als wären sie jugendlich. Es war erstaunlich. Erst in diesem Moment wusste Tony Wyss-Coray: Ihm war eine große Entdeckung gelungen.
(…) Es ist unser Blut, in dem der Schlüssel zum größten Schatz an Erkenntnis zu finden ist, den wir uns vorstellen können: In den frühen Jahren unseres Lebens zirkuliert im Blut ein geheimer Cocktail an Stoffen, die uns vital und jugendlich erhalten. Und im Alter kreisen darin die Vorboten des langsam, aber unerbittlich herannahenden Todes. »Das Blut verbindet unsere Organe«, sagt Tony Wyss-Coray. »Also muss es sich doch im Blut widerspiegeln, wenn wir altern.« Wir wissen noch nicht genau, welche Stoffe es sind, wie die Faktoren des Lebens und die des Verfalls beschaffen sind. Aber es gibt sie, und wir können sie finden.
Aber wie sollte das möglich sein? Gealterte Organe, verschlissen und erschöpft, erwachen plötzlich zu neuer Vitalität, als würde eine Uhr zurückgedreht. Was war in Wyss-Corays alten Mäusen passiert? Können die unbekannten Substanzen im jungen Blut einfach so sämtlichen vergreisenden Zellen der Gewebe des Körpers neues Leben einhauchen? Kaum vorstellbar. Und doch gibt es eine Erklärung für den magisch erscheinenden Effekt: ein Weckruf für die Stammzellen.
(…) Die hämotopoetischen Stammzellen im Knochenmark, aus denen alle Blutzellen entstehen, können sich immer wieder teilen und sorgen so für einen fast unbegrenzten Nachschub an roten Blutkörperchen und den verschiedenen weißen Blutzellen. Allerdings ist das keine exklusive Disziplin des Knochenmarks. Alle unsere Organe sind von kleinen Populationen ähnlicher Stammzellen bevölkert. Während aus den Embryozellen (oder embryonalen Stammzellen, wenn diese im Labor gezüchtet werden) noch jeder beliebige Zelltyp unseres Körpers entstehen kann, sind die Stammzellen der Organe bereits Spezialisten. Man nennt sie adulte Stammzellen, weil sie gewissermaßen bereits erwachsen sind. Ihre Nachkommen können nun zu all den Zellen heranreifen, die in dem betreffenden Organ vorkommen. Adulte Stammzellenteilen sich jedoch auf verschiedenen Arten: »Asymmetrisch« ist dabei das nachhaltige Verhalten: Die eine Tochter wird wieder eine Stammzelle, die andere aber reift zu einer neuen Leber-, Hirn- oder Darmzelle. Das Reservoir an Stammzellen in dem jeweiligen Organ bleibt dabei natürlich erhalten. Durch »symmetrische« Teilung kann der Bestand aufgestockt werden – beide Töchter werden zu Stammzellen und vergrößern die Reserve. Oder der Körper verbraucht sein Erneuerungspotenzial – beide Töchter entwickeln sich zu Zellen des Organs. Es ist sehr gut möglich, wenn auch noch nicht bewiesen, dass diese drei Arten des Benehmens unserer Stammzellen für den Effekt des jungen Bluts auf gealterte Organe sehr wichtig sind. Was also war in den Organen der vergreisten Tiere passiert, als plötzlich junges Blut sie erreichte?
Wyss-Coray und seine Mitstreiter nahmen die Organe der alten und durch junges Blut verjüngten Mäuse unter die Lupe. Was passierte in ihren Muskeln? Tatsächlich – dort waren die Stammzellen wieder aktiv geworden. In ihnen wurden Gene plötzlich wieder abgelesen, die nötig sind, um sich zu teilen und neue Muskelfasern zu erzeugen. Und noch mehr war zu sehen – eine typische Alterserscheinung schwand: Wenn sich die Muskelfasern irgendwann zurückbilden, werden sie durch schlaffes Bindegewebe ersetzt. Doch unter dem Einfluss der Jugendsubstanzen machte es neuer Muskelmasse Platz.
Ein ganz ähnliches Geschehen entdeckten Wissenschaftler in den Lebern alter Mäuse. Sobald junges Blut durch ihre Gefäße flutete, schaltete das Organ wieder auf Erneuerung – auch dabei wechselten altersträge Vorläuferzellen in den Teilungsmodus und produzierten Mengen frischer Leberzellen. Eine andere Forschergruppe identifizierte diese Wirkung auch in der Bauchspeicheldrüse: Dort wuchsen neue Beta-Zellen, die das blutzuckersenkende Hormon Insulin produzieren. Sogar die Heilung von Knochenbrüchen ließ sich durch die geheimnisvollen Faktoren in jungem Blutwieder verbessern. Offenbar waren die knochenbildenden Zellen, die Osteoblasten, aktiviert worden.
Besonders beeindruckend erscheint aber, wie sich Herz und Hirn von alten Versuchstieren verjüngen ließen. Eine typische Alterskrankheit ist Herzmuskelschwäche. Die Muskelzellen im Pumporgan verlieren ihre Kontraktionskraft zusehends. Dann beginnt das Herz übermäßig zuwachsen – eine sogenannte hypertrophe Kardiomyopathie entsteht, die oft zum Herzversagen führt. Behandeln können Mediziner die Erkrankung nicht, die einzige Möglichkeit, die Patienten zu retten, ist eine Transplantation. In Wyss-Corays Tierversuch aber schrumpften die Herzmuskelzellen und das gesamte Herz durch junges Blut wieder. Zu diesem Zeitpunkt wusste Wyss-Coray bereits, er war auf dem Weg zu einer bahnbrechenden Entdeckung. Aber für den ursprünglichen Grund seiner Experimente hatte er noch keine Antwort. Was war nun mit dem Hirn der Versuchstiere passiert?
Es ist immer Vorsicht geboten, wenn man die Ergebnisse von Tierversuchen auf Menschen übertragen will. Das gilt besonders für das Gehirn. (…) Dennoch, als Wyss-Coray und seine Mitarbeiter ihre Parabiose-Tests mit alten und jungen Mäusen durchführten, fanden sie auch in den Hirnen der alten Tieren eine bemerkenswerte Veränderung: Neurogenese – durch die greisen Hirne war eine Welle von Zellteilungen gezogen, sie hatte zahlreiche neue Nervenzellen entstehen lassen. Funktionierten die Hirne der alten Mäuse aus diesem Grund wieder wie in der Jugend?
Bis vor einigen Jahrzehnten hatten die Wissenschaftler so einen Effekt für ausgeschlossen gehalten. Man war überzeugt, dass es im erwachsenen Hirn bei Mensch und Tier keine Erneuerung mehr gebe. Das Denkorgan komme also zeitlebens mit seiner Ausstattung an Nervenzellen aus – bei Menschen sind das immerhin rund 100 Milliarden. Doch schon 1968 hatten erste Forscher Zweifel an diesem Lehrsatz angemeldet.
Erst gegen Ende der neunziger Jahre fiel das Dogma endgültig. Ein Team um den Neurowissenschaftler Fred Gage mischte damals Versuchstieren radioaktiv markierte DNA-Bausteine ins Futter. Sie werden nur bei der Teilung in die Erbsubstanz neuer Zellen eingebaut. Im Hirn der Tiere hätten also keine Spuren von Strahlung zu sehen sein dürfen. Doch man fand sie – etliche Nervenzellen im Hirngewebe enthielten strahlende DNA. Bei allen Säugetieren und auch bei Primaten fanden Wissenschaftler immer wieder das gleiche Ergebnis. Neurogenese – auch das Gehirn besitzt Stammzellen und wird mit ihrer Hilfe erneuert.
(…) Es existieren tatsächlich inzwischen viele Hinweise, dass ohne Neurogenese weder das Lernen noch das Gedächtnis richtig funktionieren. Bei Depressionen etwa ist die Teilung der Stammzellen im Hippocampus gering und tatsächlich sind Lern- und Gedächtnisstörungen ein klassisches Symptom der Erkrankung. (…)
So eine Wirkung auf die neuronalen Stammzellen entdeckte Wyss-Corays Team auch bei ihren Mäusen. Als junges Blut durch ihre Hirngefäße strömte, begann nicht nur die Bildung neuer Neurone auf das Dreifache anzuwachsen. Sie wanderten auch in andere Hirnteile aus und fügten sich dort in die Architektur der Nervenverschaltung ein. Sogar die Verbindungen zwischen den Hirnzellen hatten sich verstärkt, und die Nervennetze in den alten Hirnen konnten wieder neue Verbindungen untereinander aufbauen. Sie wurden wieder beweglich und variabel wie in der Jugend. Wissenschaftler nennen das die neuronale Plastizität. Gerade in dieser Fähigkeit aber bestehen die biologischen Vorgänge beim Lernen und bei der Bildung des Gedächtnisses. Und als Wyss-Coray seine Versuchstiere mit kognitiven Tests untersuchte, bestätigten sich diese Befunde: Die verjüngten Mausgreise schnitten bei Lern- und Erinnerungsaufgabenähnlich gut ab wie junge Tiere – und viel besser als gealterte Artgenossen. Sie konnten sich etwa wieder vielbesser an Gerüche erinnern – für Nager eine ganz wichtige Leistung ihres Gehirns.
Doch auch bei den jungen Versuchsmäusen hatten die Parabiose-Experimente einen spektakulären Effekt. Sie begannen nämlich rapide zu altern. Ihre Vergreisung schritt vielschneller voran als die von Tieren, die mit einer ebenfalls jungen Maus verbunden wurden. Vor allem behinderte das alte Blut ihre Hirnerneuerung – die Neurogenese kam zum Erliegen. Ihr Gedächtnis schwand und sie lernten so schlecht, als wären sie bereits alt.
Wir sehen also – all diese Befunde sprechen dafür: Altern ist wohl wesentlich ein Altern der Stammzellen in unseren Organen. Und im jungen Blut finden sich die Substanzen, die sie wach und vital halten. Im alten Blut dagegen kreisen Stoffe, die sie stilllegen, bis die Vergreisung einsetzt. Wyss-Coray und seinen Kollegen ist offenbar ein unerhörter Befund gelungen: Altes Blut macht alt, junges Blut macht jung.
Als die Nachricht von Wyss-Corays Ergebnissen 2014 publik wurde, twitterten einige Zeitgenossen prompt, man werde sich nun wohl die Zähne feilen und auf die Jagd nach jungen Opfern gehen müssen. Private Kliniken in den Vereinigten Staaten witterten ein Geschäftsmodell und offerierten bald zahlungskräftigen Kunden Transfusionen mit dem Blut junger Spender. Ob diese Idee ernsthafte Aussicht auf Erfolg hätte, war zu dieser Zeit indessen alles andere als klar. Viele Experten waren wenig beeindruckt: Nature, eines der wichtigsten wissenschaftlichen Journale, lehnte die Veröffentlichung von Wyss-Corays Arbeit 2012 ab. Die Gutachter hätten die Ergebnisse nicht für bedeutend genug gehalten, berichtet der britische Guardian später. Andere Kollegen bezweifelten die Befunde rundheraus – sie seien einfach zu gut, um wahr zu sein. (…)
Tatsächlich war Skepsis durchaus angebracht. Wyss-Coray und seine Kollegen standen noch ganz am Anfang. Das erste Fazit war zwar klar: »Alte Tiere sind empfänglich für Verjüngung«, erklärte er in seinem Vortrag am Eibsee den Kollegen noch einmal ganz ausdrücklich. Und junges Blut hat die Kraft zu dieser erstaunlichen Wandlung. Dennoch, es gab weit mehr offene Fragen als Antworten. (…) Was in diesem verwirrenden System konnte die Formel der Jugend enthalten? Steckte sie in den Blutzellen mit ihren vielfältigen Funktionen – war vielleicht das Geheimnis in der Jugend der Immunzellen verborgen?
Diese Frage immerhin ließ sich leicht lösen, im Prinzip. In den Labors in Stanford stoppten die Forscher die Parabiose-Experimente. Stattdessen spritzten sie ihren alten Mäusen Blutplasma von jungen Tieren. Plasma enthält ja keine Zellen mehr. Auf den ersten Blick erscheint das auch aus Gründen des Tierschutzes erträglicher. Doch da widerspricht Wyss-Coray: »Wir benötigen für die Injektionen bei einem alten Tier das Blut von 100 jungen Mäusen, verbrauchen also viel mehr von ihnen als bei Experimenten durch Parabiose.«
Das Ergebnis der Versuche aber war eindeutig: Auch Blutplasma von jungen Mäusen verjüngte alte Tiere. Es waren nicht die Zellen im Blut für den Effekt verantwortlich. Es mussten also andere Substanzen sein, aus denen die Rezeptur des Jugend-Cocktails besteht – Hormone oder andere Botenstoff vielleicht, die im Blut schwimmen. Gelöst in der Blutflüssigkeit existieren offenbar Moleküle, die uns jung halten – und verjüngen könnten.
Die Forscher in Stanford standen also gleich vor der nächsten Frage: Wie konnten diese Substanzen eigentlich beschaffen sein? Vitamine, Mineralstoffe? Vielleicht Stoffwechselprodukte oder noch unbekannte Steroidhormone? Oder bestanden die verantwortlichen Faktoren aus Proteinen?
Es gibt ein einfaches Mittel, um das zu überprüfen: Hitze. Bereits mäßig hohe Temperaturen sind für Eiweiße tödlich. Wenn man Blutplasma auf über 40 Grad Celsius erwärmt, verlieren alle Proteine darin ihre Aktivität, sie denaturieren wie das Eiweiß im gekochten Frühstücksei und werden unwirksam. Die Forscher in Stanford behandelten also ihre alten Mäuse wieder mit jungem Blutplasma, aber sie erhitzten es zuvor. Ungeduldig warteten die Wissenschaftler auf den Ausgang ihres Experiments. Und – es geschah nichts. Das junge Blut hatte seine magische Kraft plötzlich vollständig verloren. Nun hatten sie zumindest die Natur des Jugend-Cocktails enthüllt – es sind besondere Proteine des jungen Blutes. In ihnen steckt die Kraft der Jugend.
Doch noch immer erscheinen uns all diese Effekte wie Zauberei. Wie sollte denn junges Blut eine Erneuerung der Organe bewirken können? Auf welche Weise könnten seine Proteine denn die Stammzellen aus der Lethargie des Alters treiben? Welcher Art die verjüngenden Eiweiße im roten Saft auch sein mögen – sie müssten eine tief greifende Veränderung im Inneren unserer Zellen herbeiführen. Ist so etwas überhaupt denkbar?
(…) Was kann die Ursache sein, wenn sich unsere Stammzellen im Alter nicht mehrausreichend teilen? Damit sie das tun können, brauchen sie eine Reihe von speziellen Proteinen. Offenbar werden diese im Alter nicht mehr ausreichend gebildet. Eine Ursache kann sein, dass die entsprechenden Gene durch Methylierung blockiert wurden und nicht abgelesen werden können. (…)
Allerdings, es existiert noch eine weitere Hierarchie der Steuerung unserer Gene. Damit sie abgeschrieben und ihre Informationen genutzt werden können, brauchen die Zelleneine weitere besondere Klasse von Proteinen: Man nennt sie Transkriptionsfaktoren. Sie klammern sich an die DNA in der Nähe von Genen, und erst dann kann ein anderes Eiweißmit der Abschrift dieser Erbanlage beginnen. Weil Transkriptionsfaktoren aber ebenfalls Proteine sind, existieren auch Gene, in denen ihre Bauanleitung kodiert liegt. Damit sie deren Code wiederum nutzen kann, benötigt die Stammzelle ein Signal von außen. Botenstoffe, Hormone und andere Substanzen, übertragen die Nachricht: Bilde deine Transkriptionsfaktoren! Dann läuft die ganze komplizierte Kaskade an – am Ende teilt sich die Stammzelle und die eine oder beide ihrer Töchter werden zum Teil der Erneuerung. (…)
Aber wir haben jetzt eine ausreichende Vorstellung, wie das Elixier der Jugend beschaffen sein dürfte: Es müssen solche Botenstoffe im jungen Blut sein. Proteinfaktoren, die an die Stammzellen unserer Organe das Signal übermitteln: Aktiviere die Teilungskaskade. Nur sie können diese wundersamen Wandlungen auslösen. Aber es gibt in unserem Blut über 700 verschiedene Eiweiße und sehr viele davon sind solche Botenmoleküle. Es ist klar, welche Aufgabe Wyss-Coray und all die anderen Wissenschaftler, die nun in diesem Gebiet arbeiten, vor sich haben. Welche Signalproteine genau übermitteln die Botschaft? Wie ist der Cocktail der Jugend zusammengesetzt?
(…) In vielen Laboren großer Forschungsinstitute und natürlich auch in Wyss-Corays Abteilung an der Universität Stanford läuft nun die Fahndung nach den Bestandteilen der Vitalformel. »Wir testen jetzt systematisch die Top 100 der Kandidaten«, sagt Wyss-Coray, »ist das nicht faszinierend? Vielleicht finden wir nun wirklich den Ursprung des Alterns.« Einige Substanzen sind bereits eingekreist: Zu den Boten des Verfalls, die im Blut alter Tiere zirkulieren und die auch junge Mäuse altern lassen, zählen wohl vor allem Immunfaktoren und Entzündungsstoffe: Unter starkem Verdacht stehen zum Beispiel das Protein Beta-2-Mikroglobulinund der Faktor CCL 11. Dieses Botenmolekül aus der Gruppe der Chemokine blockierte zumindest im Tierversuch die Neurogenese im Hirn genauso wie das Blut alter Mäuse.
Weniger durchsichtig ist die Lage aber bei der Suche nach den verjüngenden Faktoren im Blut. 2015 glaubten Wyss-Coray und andere Forscher bereits, einen von ihnen identifiziert zu haben, das Protein GDF11 (growth differentionfactor 11). Als sie gentechnisch hergestelltes GDF11 in alte Mäuse spritzten, zeigten diese viele der zuvor beobachteten Indizien für die Verjüngung in ihren Organen und Geweben. Kurz darauf aber berichteten andere Forscher, sie hätten eine gegenteilige Wirkung festgestellt. Wie dieser Widerspruch zu erklären ist, wissen die Forscher noch nicht. Inzwischen aber ist schon das nächste Eiweiß auf der Favoritenliste der Wissenschaftler vorgerückt: CSF-2 (colony stimulationfactor 2). Spritzt man es vergreisten Tieren, schneiden sie bei Tests für kognitive Leistungen wieder viel besser ab. Wyss-Coray aber ist überzeugt, dass eine komplexe Formel für die Verjüngung existiert; nicht eine einzige machtvolle Substanz im Blut, sondern ein ganzer Cocktail von Botenstoffen. Sie zu finden und in der richtigen Mischung einzusetzen wird wohl noch einige Jahre Forschung benötigen.
Und dabei steht die nächste Frage bereits im Raum, es ist die entscheidende: Wie ist es bei uns Menschen? Haben auch Kinder und Jugendliche diese mysteriöse Macht in ihrem Blut? Hier ist erst einmal tiefe Skepsis angebracht. (…) In der medizinischen Forschung gilt zu Recht der Grundsatz: Mice tell lies – Mäuse lügen. Menschen sind nun einmal keine 75-Kilo-Mäuse, und was Mäusen hilft, muss bei Menschen nicht wirken. (…)
(…) Dass nicht nur junge Nager, sondern auch Kinder und Jugendliche die Macht über das Alter in ihrem Blut besitzen, ist ja durchaus nicht selbstverständlich. Schließlich fiel an der Universität Stanford die Entscheidung, nun den entscheidenden Versuch zu wagen und im menschlichen Blut auf die Suche zu gehen. Wyss-Coray bat seine jüngsten Studenten um Hilfe. Sie spendeten Blut. Außerdem beschaffte man Beutel mit dem allerjüngsten Blut, das es gibt – das aus der Nabelschnur von Neugeborenen. Und das Blut von 56-Jährigen als Gegenprobe. Dann stand der entscheidende Versuch an. Würde es funktionieren? Kann auch junges Menschenblut verjüngen?
Die ersten Tests wollte Wyss-Coray natürlich mit alten Mäusen durchführen (…): Mausstämme mit einem erblichen Immundefekt. (…) Diese Tiere können artfremdes Blut nicht abstoßen. Sie würden also auch das Blut von Wyss-Corays Studenten tolerieren. Und sie bieten noch mehr Vorteile: Sie altern schneller als normale Mäuse und lernen dann sehr schlecht. Man würde also schneller ein Ergebnis bekommen.
Als die Daten des Experiments vorlagen, war die Frage entschieden: Auch Menschen verfügen über die magische Kraft der Verjüngung, solange sie jung sind. »Wir sahen erstaunliche Effekte«, sagt Wyss-Coray. »Das junge menschliche Blut hatte positive Wirkungen in jedem Organ, das wir bislang untersucht haben.« Das Blutplasma der jungen Studentenverbesserte die Lernfähigkeit der alten Tiere, auch ihre Fluchtreaktionen hatte es reaktiviert.
Noch ausgeprägter war die Verjüngung, wenn die Forscher den Tieren das Nabelschnurblut von Neugeborenen spritzten. Die entgegengesetzte Wirkung hatte das Blut ältere Spender – junge Mäuse begannen beschleunigt zu altern. Es war spektakulär.
Aber noch immer hatten nur alte Versuchstiere den Segen der Verjüngung erleben können. Noch wissen wir nicht, was passiert, wenn man das Experiment mit alten Menschenwagt, mit gebrechlichen Greisen, mit solchen, die von Altersleiden gezeichnet sind. Doch der erste Versuch hat bereits begonnen: Im September 2014 startete an der Universität Stanford ein erster klinischer Versuch: die Studie mit dem Namen PLASMA (The Plasma for Alzheimer Symptom Amelioration), besteht aus der Transfusion von Blutplasma junger Spender zur Behandlung von früher und fortgeschrittener Alzheimer-Krankheit. Bezahlt wird sie von einer privaten Firma, an der Wyss-Coray beteiligt ist. Insgesamt 18 Alzheimer-Patienten sollen nun vier Bluttransfusionen mit Plasma von Männern unter 30 Jahren erhalten, immer eine pro Woche.
Wenn der Versuch beendet ist, will Tony Wyss-Coray messen: Haben Faktoren im jungen Blutplasma die Patienten vielleicht bereits nach dieser kurzen Behandlung epigenetisch verjüngt? Hatten die Transfusionen gar einen positiven Effekt auf ihre Demenzerkrankung? Immerhin könnte eine wiederbelebte Neurogenese ihr Gedächtnis gestärkt haben. Für gesicherte Aussagen ist die Zahl der Patienten in dieser ersten Studie natürlich viel zu klein; wie immer, wenn man eine neuartige Behandlung erprobt, geht es vor allem um Sicherheit und Nebenwirkungen der Therapie. Noch sind also Krankheiten das Motiv bei den Tests mit den mysteriösen Kräften im jungen Blut. Doch wenn es dabei Erfolge gibt – spätestens dann wird das Alter selbst zum Ziel medizinischer Interventionen werden.
Bis dahin müssen die Wissenschaftler jedoch noch schwierige Grundfragen klären: Wo kommen die Bestandteile des Jugendcocktails im Blut eigentlich her? Welches Organ ist die Quelle? Die Muskulatur zum Beispiel ist kein schlechter Kandidat: Mit Ausdauertraining können wir die Entzündungsboten im Blut niedrig halten, die vermutlich auch das Altern vorantreiben. Junges Blut hatte in Wyss-Corays Experimenten mit Mäusen denselben Effekt. Und wir wissen bereits seit Längerem, dass Muskelgewebe eine ganze Reihe von Botenstoffen in den Organismus ausschüttet.
(…) Im Moment bleiben das noch Spekulationen.
Herrn Dr. Ulrich Bahnsen, Diplom-Biologe, gilt unser besonderes Kompliment zu diesem atemberaubenden Buch. Dem Autor und dem Droemer Verlag danken wir für die Erlaubnis zur Wiedergabe der Auszüge.